NDL-Blog | 20.08.2021 Das laufende Forschungsprojekt zur Rolle maritimer Infrastruktur und Sammlernetzwerke mit Fokus auf den Norddeutschen Lloyd im Westpazifik während der deutschen Kolonialzeit fordert dazu auf, auch im Deutschen Schifffahrtsmuseum (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte neu über das koloniale Erbe der Museen nachzudenken.
Museumssammlungen und -archive zu erforschen verlangt viel detektivischen Spürsinn. Oft sind Dokumente, Objekte und Materialen in den modernen Sammlungsmanagement-Systemen nicht so verschlagwortet, wie es für aktuelle Forschungsfragen wünschenswert wäre. Das gilt auch für Kolonialgeschichtsforschung am DSM: Da es erst seit 1975 als das nationale Schifffahrtsmuseum für die Öffentlichkeit zugänglich ist, gelangten einige Objekte, Schriftwerke und Archivalien aus dem Kaiserreich oder mit Bezug zu seinen Kolonien erst bedeutend später und möglicherweise über viele Hände in die Bibliothek und die Magazine des Museums. Klassische zeitgenössische Eingangslisten, die Objekte wenigstens bedingt ihren kolonisierten Herkunfts- oder Bezugsregionen zuordneten, gibt es dort in dieser Form seltener. Überhaupt: Anders als bei Kulturgütern, die aus nicht-europäischen Gesellschaften und nicht selten unter fragwürdigen Umständen in deutsche Museen gelangten, ergibt sich hier die Einbindung in koloniale Sachverhalte nicht allein schon aus ihrer Herkunft. Der deutschen Schifffahrtsgeschichte und ihren Dingen haften noch viel zu oft Erzählungen von Erfindergeist, Abenteuerlust und damit reiner Fortschrittserzählung an. Das ist ein postkoloniales Problem, denn es entbindet viele der Objekte im DSM im Nachtrag von ihren ursprünglichen Nutzungszusammenhängen.
Schiffe und Schifffahrt mögen vielleicht nicht immer per se kolonial sein, aber sie werden es häufig durch ihre Kontexte. Immer dann, wenn Menschen durch oder über die Meeresnutzung in eine Beziehung zueinander treten, wenn sich politische, soziale, kulturelle oder ökonomische Abhängigkeiten ergeben, dann muss auch maritime Geschichtsschreibung kritische Lesarten zulassen. Das gilt etwa für Rezeptionsmaterial, also solches, welches die kolonialen Zusammenhänge bewusst oder unbewusst reflektiert. Ein zweiter Blick auf einige der Dinge im DSM lohnt sich: Wer sich am DSM beispielsweise Kapitänstagebücher wie das vom Dampfer YSABELL aus den Jahren 1890/91 anschaut, der entdeckt einen facettenreichen Part deutscher Schifffahrtsgeschichte, die aus erster Hand erzählt wird. Das bei Blohm & Voss in Hamburg gebaute Dampfschiff verrichtete seinen Inseldienst im sogenannten Schutzgebiet der Berliner Neuguinea-Kompagnie, in welchem seit 1884 die Interessen deutscher Kaufleute und Investoren im westlichen Pazifik vom Deutschen Kaiserreich abgesichert wurden. Schiffe wie dieses brachten lokale Gesellschaften mit den auf ihnen reisenden Europäern in Berührung.
Auf der einen Seite stehen persönliche Neugier, für den heutigen Betrachter bemerkenswerte Küstenzeichnungen von für Europäer noch recht unbekannten maritimen Gefilden, kurzweilige Berichte über den Alltag an Bord entlang ungewisser Küsten. Sie berichten über das Trotzen von tropischem Fieber und vielen Entdeckungen – klassische, gerne erzählte Schifffahrtsgeschichten. Sie spiegeln jedoch auch die Schicksale und Erfahrungen von zahlreichen namenlosen Kolonisierten, die mit dem Schiff unter fragwürdigen Bedingungen zur Arbeit angeworben wurden. Einige von ihnen versuchten zu fliehen und andere Geschichten erzählen von exzessiven Strafexpeditionen einschließlich Vergeltungsmorden an Teilen der lokalen Bevölkerungen. Kapitän Schmieders Tagebuch von Bord der YSABELL verdeutlicht als Beispiel aus erster Hand, wie untrennbar sich deutsche Schifffahrt im Pazifik, europäische Wissensgeschichte und ungleiche, zum Teil gewaltsame Machtkonstellationen im kolonialen Kontext miteinander verbanden. [Bild 1]