Interview mit der Gastwissenschaftlerin Lisa Hilli

Blog |

Die australische Künstlerin Lisa Hilli erhielt im April 2021 ein einjähriges Stipendium und ist seither als Gastwissenschaftlerin für das Deutsche Schifffahrtsmuseum tätig. Sie forscht zu den Kolonialstrukturen des Norddeutschen Lloyds und lässt ihre Erkenntnisse unmittelbar in ihre künstlerische Arbeit einfließen. Hilli selbst ist Tolai/Gunantuna-Frau. Der deutsche Kolonialismus hatte Einfluss auf ihre familiäre Geschichte.

Frau Hilli, was hat Sie motiviert, sich für das Stipendium einer Gastwissenschaftlerin am Deutschen Schiffahrtsmuseum zu bewerben?

Ich wollte ein tieferes Verständnis für die Geschichte des deutschen Kolonialismus insbesondere in Papua-Neuguinea gewinnen. Zuvor hatte ich im Rahmen meines Master of Fine Arts by Research nur bruchstückhaft über die deutschen kolonialen Einflüsse und Auswirkungen geforscht. Ein Bereich der deutschen Kolonialgeschichte, den ich untersuchte, war das Luluai-Dekret, das von Gouverneur Albert Hahl in Rabaul (meinem Geburtsort) erlassen wurde und sich auf den männlichen Körperschmuck der Tolai, den Midi, bezog. Dabei handelt es sich um einen stark verzierten runden Muschelkragen, der durch den kolonialen Einfluss kulturell abgewertet wurde. Der Midi ist ein Körperschmuck, der dem Träger in der vorkolonialen Gesellschaft der Tolai Schutz, Status und Identität verlieh. Ich interessierte mich besonders für das Wort "Luluai" in der Sprache der Tolai, das in meiner Sprache ursprünglich "Krieger" oder "Anführer" bedeutete. Als die europäischen Missionare kamen und meine mündliche Sprache Tinata Tuna umschrieben, wurde dieses Wort Luluai zum Wort für Gott. Sie werden dieses Wort Luluai in Tolai-Bibeln finden und es heute in Hymnen singen hören. Als Albert Hahl das Luluai-Dekret einführte, bedeutete dies eine weitere Abwertung der indigenen Führungssysteme und Hierarchien, für die die Midi standen, weshalb sie heute nicht mehr hergestellt werden. Viele Tolai-Midi sind in Museen auf der ganzen Welt zu finden. Deutsche waren die ersten europäischen Kolonisten in meinem Heimatland Papua-Neuguinea. Die Auswirkungen dieser Geschichte sind noch heute sowohl in Papua-Neuguinea als auch in Australien, wo ich heute lebe, zu spüren. Das Verständnis der Geschichte hilft mir zu verstehen und kreativ zu interpretieren, was heute existiert.

Als Leibniz-Forschungsmuseum gilt das Deutsche Schifffahrtsmuseum als wichtiger außerschulischer Lernort. Welchen Stellenwert haben die Museen in Australien und hat sich ihre Rolle während der Pandemie verändert?

Ich habe festgestellt, dass sich die australischen Museen während der Pandemie in Bezug auf die Art und Weise, wie sie ihre Bildungsinhalte der Öffentlichkeit zugänglich machen, verändert haben. Alles wurde online gestellt. Ausstellungen und Vorträge. Die pädagogische Unterstützung für Schüler:innen wurde besonders für Eltern und Lehrer:innen verstärkt, die junge Menschen beim Lernen zu Hause unterstützten. Mich traf der Lockdown auch. Melbourne ist bekannt dafür, dass es die längste Sperrung seiner Stadt und seiner Dienste durch Covid gab. Eine wichtige Veränderung, die ich während der Pandemie 2020 bemerkte, war die Black-Lives-Matter-Bewegung und ihre Auswirkungen auf Museumskuratoren, Sammlungsinitiativen und Ansätze zur Entwicklung von Ausstellungen. Die Museen Victoria - die größte Vereinigung australischer Museen -war gerade dabei, eine Ausstellung des Natural History Museum in London zu präsentieren, die aufgrund ihrer britischen Kolonialgeschichte und Kuratierung problematisch war und nicht unbedingt mit der langfristigen strategischen Vision der Museen übereinstimmte, das Wissen, die Kultur und die Geschichte der ersten Völker in den Mittelpunkt aller Aktivitäten zu stellen. Die besondere Sammlung von Objekten für diese Ausstellung trug den Titel "Schätze der Natur" und enthielt hauptsächlich Tier- und Insektenpräparate aus aller Welt, die größtenteils während der britischen Kolonialzeit gesammelt wurden. Vor der Black-Lives-Matter-Bewegung war das Naturhistorische Museum nicht offen für den indigenen / First-People-zentrierten Ansatz der Museen Victoria in Bezug auf deren Sammlungen und Geschichte, da dies, wie ich glaube, die Sammler, ihren Status und ihr Erbe abwerten würde. Als die Black-Lives-Matter-Bewegung über den Globus schwappte, vollzog das Naturhistorische Museum einen völligen Wandel und erkannte, dass sein Ansatz, imperialistische Ideale aufrechtzuerhalten, überholt war und keinen Bezug zu seiner eigenen gewalttätigen und unterdrückerischen Geschichte hatte, die in den Museumssammlungen verborgen war. Die Pandemie hat vor allem die Ungerechtigkeiten nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in den australischen Museen und bei den Kuratoren, mit denen ich zusammengearbeitet habe, aufgezeigt. Ich konnte beobachten, dass Museumsfachleute und -institutionen erkannten, wie wichtig die Darstellung von Stimmen und Geschichten von Randgruppen ist. Indem man die Menschen am Rande der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt - Behinderte, Transsexuelle, Queers, Schwarze, Indigene und People of Colour - gewinnt die Gesellschaft ein differenzierteres Verständnis für die Lebenserfahrungen und Geschichten anderer Menschen, was wiederum Empathie schafft. Dieser Paradigmenwechsel in den australischen Museen fand bereits vor Covid statt und sorgte intern für viel Unbehagen und Spannungen, weil es darum ging, wer die Macht und den Raum in den Institutionen innehat. Wenn man in einer Institution eine Machtposition innehat, kann man, wenn man will, das Narrativ einer ganzen Kultur kontrollieren, und das bringt eine große Verantwortung mit sich. Die Blak* Lives Matter-Bewegung hat in den großen australischen Hauptstädten an Schwung gewonnen und durch die Pandemie die dringende Notwendigkeit unterstrichen, dass die australischen Museen ihre Strukturen intern verändern, damit mehr First Peoples of Australia Führungspositionen einnehmen können, und das ist eine wichtige und willkommene Veränderung.

*Blak ist ein Wort, das von der Künstlerin Destiny Deacon stammt, um indigene Völker darzustellen, und das für die meisten First People in Australien zur Lingua franca geworden ist.

Während Ihres Stipendiums haben Sie an dem Projekt "Kolonialgeschichte des Norddeutschen Lloyd" mitgearbeitet, wie genau sind Sie dazu gekommen?

Zum Projekt "Colonial History of the North German Lloyd" bin ich durch meine kollegiale Beziehung zu Tobias Goebel gekommen. 2018 habe ich Tobias bei seiner Doktorarbeit über deutsche Agenten im pazifischen Raum als Sammlungsmanagerin für indigene Sammlungen bei den Museen Victoria unterstützt. Normalerweise würde der pazifische Kurator für die Sammlungen bei solchen Forschungsanfragen helfen, aber ich war besonders daran interessiert, mit Tobias in Kontakt zu treten, da es so wenige Forschungsanfragen zur deutschen Kolonialgeschichte in den pazifischen Sammlungen der Museen Victoria gab. Da ich in Rabaul geboren bin, war es für mich wichtig, die Art von Tobias' Forschung zu verstehen. Ein Jahr später trafen Tobias und ich uns zufällig bei einem postkolonialen akademischen Workshop, der von der Universität Bremen veranstaltet wurde, um die Beziehungen zwischen PNG und Deutschland zu vertiefen, was ein absoluter Glücksfall war. Tobias und ich blieben in regelmäßigem Kontakt und tauschten uns über alles aus, was mit den Sammlungen und der Geschichte von Deutsch-Neuguinea zu tun hatte und unserer beider Forschungsarbeit in den Museen zugute kam. Tobias war es, der mich einlud, im Rahmen eines Stipendiums am Kolonialgeschichtsprojekt des Norddeutschen Lloyds teilzunehmen. Wir tauschten Ideen aus, was wir verfolgen könnten, die unsere beiden Interessen miteinander verbanden, und glücklicherweise waren wir bei der Vergabe eines Stipendiums durch die German Lost Art Cultural Foundation erfolgreich.

Was ist für Sie das Spannende an dem Thema "Kolonialgeschichte des Norddeutschen Lloyds"?

Es sind die Details, andere historische Informationen zur deutschen Kolonialgeschichte zu finden, die mir helfen zu verstehen, warum meine Heimat Rabaul die Hauptstadt von Deutsch-Neuguinea wurde. Warum gibt es heute so viele Objekte, Kunst und Fotografien aus Neuguinea in deutschen Museen? Warum bin ich mit deutschen und papua-neuguineischen Familien in Australien aufgewachsen? Warum gibt es heute eine so große chinesisch-papua-neuguineische Gemeinschaft in Rabaul? Ich finde Forschung unersättlich. Das Streben nach Wissen hat mich schon immer angetrieben, denn wenn man Wissen hat, hat man Macht. Der Erwerb von Wissen hat vielen Autor:innen, Anthropolog:innen, Historiker:innen und Wissenschaftler:innen eine gewisse autoritative Macht über die Kultur und Geschichte der Menschen in Papua-Neuguinea verliehen, insbesondere durch die Verbreitung ihres Wissens durch öffentliche und akademische Veröffentlichungen. Weil ich die Möglichkeit habe, mich in die deutsche Kolonialgeschichte von Papua-Neuguinea zu vertiefen und sie zu verstehen, ermöglicht mir als Frau aus Papua-Neuguinea eine ganz besondere Perspektive, zumal mein eigenes Leben vom deutschen Kolonialismus beeinflusst wurde, und zwar nicht freiwillig. Das Verständnis der Schifffahrtsnetze des Norddeutschen Lloyd und vieler anderer deutscher Reedereien, die im Pazifik operierten, hilft mir, eine weitere Ebene der kolonialen Mechanismen zu verstehen. Die Kolonien auf der ganzen Welt hätten im 19. Jahrhundert ohne die Infrastruktur der Schifffahrtsgesellschaften, die für den Nachschub und die Gewinnung und den Export lokaler Waren sorgten, weder gedeihen noch überleben können.

Steht das Projekt in Zusammenhang mit Ihrer künstlerischen Arbeit?

Ja. Kreative Forschung ist ein wichtiger Teil meines künstlerischen Prozesses. Eines meiner Hauptinteressen an der deutschen Kolonialgeschichte liegt in den Kopra-Plantagen in Neuguinea. In der Vergangenheit habe ich viel recherchiert, was dazu geführt hat, dass ich die Kolonialgeschichte in Bezug auf die Handelsbeziehungen zwischen Melanesiern und Europäern durch Videokunst und Textilien nachgestellt oder neu gestaltet habe. Ich wusste immer, dass Kopra von den Plantagen in und um Rabaul nach Deutschland, insbesondere nach Hamburg, exportiert wurde. Die Schifffahrtsgesellschaft Norddeutscher Lloyd war maßgeblich am Export und an der Lieferung von Kopra zu kommerziellen Zwecken beteiligt. Als ich die digitalisierten Fotografien des Lloyd-Kapitäns Carl Nauer aus dem Obergünzburger Südsee-Museum sah, wurde mir eine weniger bekannte visuelle Geschichte des Alltagslebens im kolonialen Pazifik sowohl für Neuguinea als auch für die Europäer an Land und auf See bewusst. Ich habe begonnen, eine neue Fotografieserie mit Archivbildern über die deutsche Kolonialzeit in Rabaul zu erstellen, die von Dezember 2021 bis März 2022 im Brücke-Museum in Berlin ausgestellt werden soll. Durch das Projekt habe ich auch verborgene mündliche und genealogische Geschichten von Melanesiern entdeckt, die auf fremden Schiffen zu deutschen Plantagen in Samoa und darüber hinaus reisten. Ein kreatives Ergebnis war die Veröffentlichung einer Youtube-Playlist mit einigen dieser Abot-Lieder (Bootslieder), die größtenteils in Tok Pisin und meiner Sprache Tinata Tuna gesungen wurden. Forschung ist für mich wie das Finden von Samen, und wenn die Bedingungen es zulassen, geht die Saat auf und sie keimen zu etwas Schönem.

Ein Besuch in Deutschland kam aufgrund der Pandemie nicht infrage. Wie hat die interkontinentale Zusammenarbeit mit Bremerhaven funktioniert?

Ich denke, wir haben das Beste getan, was wir angesichts der schwierigen Umstände des Lebens und Arbeitens während einer weltweiten Pandemie tun konnten. Tobias und ich haben versucht, uns so regelmäßig wie möglich zu treffen, um uns auszutauschen. Wobei wir uns in unterschiedlichen Zeitzonen befanden. Wir arbeiteten wie "Schiffe in der Nacht". Wir hielten uns gegenseitig per E-Mail auf dem Laufenden und tauschten Dokumente und Forschungsnotizen elektronisch aus. Die digitale Technologie war von entscheidender Bedeutung, um Zugang zu den Sammlungsmaterialien zu erhalten. Ich verließ mich weitgehend auf elektronische und digitalisierte Aufzeichnungen, wenn ich darauf zugreifen konnte und wenn dies nicht möglich war, suchte ich im Internet nach gedruckten Büchern. Der Nachteil, dass ich nicht nach Deutschland reisen konnte, bestand darin, dass ich keinen physischen Zugang zu den Sammlungen hatte und andere DSM-Kolleg:innen nicht treffen konnte. Begegnungen mit Menschen sind ein wichtiger Bestandteil der Vernetzung, sie erzeugen ein dynamisches Forschungsumfeld. Diese Vernetzung fand auf andere Weise statt, z. B. während einer Online-Konferenz, an der ich Anfang des Jahres teilnahm. Die DSM-Kuratorin Dr. Gisela Parak lud zur Konferenz "Das Andere sehen? Der kolonialistische Blick", ein, in der es um historische Reisefotografien der Kaiserlichen Marine ging.

Wird die Arbeit für das DSM Ihre weitere künstlerische Arbeit in Australien beeinflussen?

Das hat sie bereits. Einige der Forschungsergebnisse, die ich entdeckt habe, werden regelmäßig über meine Social-Media-Accounts öffentlich geteilt und erweitern die bestehenden Forschungen. Museen, Galerien, Akademiker:innen und Kreative zeigen sich sehr interessiert, nicht nur in Australien, sondern aus der ganzen Welt. Die deutsche Kolonialgeschichte im pazifischen Raum ist in Australien nicht sonderlich bekannt. Die meisten Australier wissen nicht einmal, wie nahe die Kolonie Deutsch-Neuguinea an Australien lag. Historisch gesehen waren australische Häfen wie Cooktown (benannt nach dem britischen Leutnant James Cook) und Sydney für deutsche und viele andere europäische Schiffe als Zwischenstopps wichtig. Und sie waren wichtig als Transitstationen für die Etablierung und kontinuierliche Expansion in den pazifischen Raum während der Kolonialzeit. Bezüglicher meiner weiteren künstlerischen Arbeit stelle ich mir vor, dass sie in kuratorische und kreative Projekte einfließt und darin die komplexen Geschichten melanesischer und asiatischer Menschen verdeutlichet, die auf Schiffen zur Zwangsrekrutierung oder als Zwangsarbeiter im Rahmen der Kolonialgeschichte transportiert wurden. 

 

Lisa Hilli versteht sich als Tolai/Gunantuna-Frau, die auf dem Vormundschaftsland der Boon Wurrung und Woi Wurrung-Völker - Menschen der Kulin Nation - lebt, arbeitet und lernt. Voller Respekt erkennt sie die Vergangenheit und Gegenwart ihrer Ältesten und die noch heute lebende Gemeinschaft an.

zum Projekt-Blog "Norddeutscher Lloyd"

 

 

Die Gastwissenschaftlerin und Künstlerin Lisa Hilli.

Foto: Atong Atem

.svgNavPlus { fill: #002c50; } .svgFacebook { fill: #002c50; } .svgYoutube { fill: #002c50; } .svgInstagram { fill: #002c50; } .svgLeibnizLogo { fill: #002c50; } .svgWatch { fill: #002c50; } .svgPin { fill: #002c50; } .svgLetter { fill: #002c50; } Universität Bremen