Spekulative maritime Ökologien

Ethnografische Forschungen zur Problematisierung von Meeresveränderungen

Das Verhältnis von Mensch und Meer – auch zentrales Thema des Themenbereiches „Schiff und Umwelt“ am DSM – ist im Wandel begriffen. Das Meer wurde lange als großer Raum begriffen, als ein Außen und damit als ein Bereich der scheinbar endlosen Externali­sierung industrieller Produktionsweisen. Es wurde als Senke benutzt für vieles, was es im 20. Jahr­hundert zu entsorgen galt (Schiffwracks, Weltkriegsmunition, Dünnsäure, radioaktiver Müll) oder was nicht inten­diert dorthin gelangte (Plastik, Schadstoffe, Nitrate, Öl). Doch die Ozeane „melden sich zurück“, z.B. durch Meeresspiegelanstieg, Überflutungen, Algenblüten, Anhäufungen von Meeresmüll und der Veränderung von Ökosystemen. Diese treten häufig zunächst im globalen Süden auf, oft an Orten wie pazifischen Inseln, die diese Externalisie­rungskosten zuerst tragen müssen. Im 21. Jahrhundert scheint das Bewusstsein für die Endlichkeit und Vulnerabilität des Ökosystems Weltmeer nun wieder zu wachsen. Ereignisse wie die UN-Ozeankonferenzen in New York und Lissa­bon, das Sustainable Development Goal (SDG) 14, die Verhandlung von Meereszielen bei den letzten G7-Treffen, das Wissenschaftsjahr Meere und Ozeane, die Ausrufung der globalen Ozeandekade 2021-2030 und nicht zuletzt der aktuelle Bericht des IPCC zeugen davon – sowie das Erstarken einer neuen Klimabewegung seit 2018 durch Akteur:innen wie Fridays for Future und andere.

Ausgehend von Konzepten und Methoden der anthropologischen und feministischen Wissenschafts- und Technikforschung (STS), maritimer und Umweltanthropologie wird in diesem Forschungsprogramm einem Interesse für Grenzobjekten zwischen Naturen und Kulturen (wie beispielsweise der Plastisphäre, einem synthetischen Habitat für Mikroorganismen im Meer) nachgegangen. Dabei interessiert sich die Forschung besonders für räumliche und zeitliche Verschiebungen und spekulative Elemente des Meereswandels.

Spekulative Ökologien beziehen sich auf die Unbestimmtheit von Veränderungen in Ökosystemen sowie deren ungewisser Temporalität, beispielsweise wann Fischer*innen im Süden von Chile mit einer erneuten gefährlichen Algenblüte rechnen müssen. Sol­che Formen von ökologischen Desastern, bei denen oft erst Jahre später die Folgen absehbar sind, brauchen andere Lösungsstrategien und politische Repräsentationen. So wie in der Sphäre der Finanzspekulation auf unsichere und riskante Derivateund Futures gesetzt wird, wird das Spekulative angelehnt an Konzepte von Whitehead und Stengers in einer politischen Ökologie als Ausrichtung von Vermutungen auf einen unsicheren Erwartungshorizont verstanden: Wie erzeugen spekulative sozialwissenschaftliche Praktiken eine Welt, in der unentschiedene Zukünfte in die Gegenwart gebracht werden?

Umweltveränderungen haben eine spezifische Temporalität, wie und wann sich bestimmte ökologische Veränderungen manifestieren bleibt häufig unbestimmt und spekulativ. Studien über Abfall, Um­weltverschmutzung und Toxizität befassen sich häufig mit Unsicherheit, spekulativer Wissensproduk­tion und unvorhersehbaren zeitlichen Auswirkungen. Die Wissensproduktion ist daher kompliziert und wirft Fragen nach Verantwortung und Umweltgerechtigkeit auf. Begriffe wie „langsame Desaster“ (Knowles) und "langsame Gewalt" (Nixon) erlauben es, Umweltverschmutzung auch als eine besondere Form der Kolonisierung (Liboiron) von Land und Waser zu diskutieren. Es bleibt jedoch schwierig, langsame Gewalt darzustellen, da das Verhältnis von Ursa­che und Wirkung oft erst zu einem späteren Zeitpunkt auftritt. Beispielsweise können durch Meeresströmungen Plastikpartikel Meilen entfernt an anderen Küsten angeschwemmt werden, Schadstoffe reichern sich intergenerationell in Lebewesen an und die Effekte von Schadstoffen treten erst Jahrzehnte später hervor. Ungewissheit, Unvorhersagbarkeit und Unbestimmtheit von For­schungsergebnissen führt hier auch zu einem Problem des Wissenstransfers – und bietet eine An­griffsfläche für Skeptiker:innen oder Leugner:innen ökologischer Probleme. Wissensproduktion in diesen Bereichen ist insofern extrem politisiert. Die Relevanz ethnografischer Forschung liegt u.a. in ihrem Potenzial zu zeigen, welche Akteur:innen und welches lokale und indigene Wissen in diesen Prozessen ausgeschlossen oder nicht gehört wird oder auch durch machtvolle Übersetzungsstra­tegien unsichtbar gemacht wird.

Entlang dieser Problematisierungen werden in dem Projekt bereits geförderte Forschungen zu Meeresveränderung, z.B. zu Mikroplastik im Meer, der Entstehung der Plastiksphäre, der Problematisierung von toxischen Algenblüten in Relation zu Aquakulturen, aktuelle Forschung zur Auswirkung von Munition im Meer sowie zukünftige Forschungen zu den Auswirkungen des globalen Schiffverkehrs auf Artentransport (z.B. durch Ballastwasser) und Veränderungen von Ökosystemen analysiert, aber ebenso auch unter der Perspektive einer Anthropologie des Mehr-als-Menschlichen die Potenziale von marinen Organismen wie Algen, Plankton oder Bakterien.

 

 

Plastik am Strand

Credit: Sven Bergmann

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